Es gibt Momente, in denen Führung sich anfühlt wie eine nächtliche Fahrt durch dichten Nebel. Die Scheinwerfer tasten sich voran, die gewohnte Weitsicht ist verschwunden. Was eben noch vertraut war, löst sich im Dunst auf. Die Straße ist da aber sie zeigt sich nur stückweise.

In solchen Situationen zählt nicht das Fernlicht, das alles sichtbar machen will und dabei nur blendet. Entscheidend ist das Abblenden: bewusst die Sicht verkürzen, den Fokus auf das legen, was hier und jetzt erkennbar ist, und den nächsten Abschnitt klar fahren, auch wenn das Ziel noch im Verborgenen liegt.

Führen in Unsicherheit funktioniert nach denselben Prinzipien.

Die Realität: Unsicherheit als Normalzustand

Unternehmen bewegen sich in einem Umfeld, in dem Stabilität zur Ausnahme geworden ist. Lieferketten können sich innerhalb weniger Stunden verändern. Märkte kippen in Wochen. Technologien stellen Geschäftsmodelle infrage, bevor sie ausgereift sind.

„Nichts ist so beständig wie der Wandel.“ (Heraklit)

Die Deloitte-Studie Human Capital Trends 2025 spricht von einer „Verkürzung der Haltbarkeit von Gewissheiten“. Führung findet immer häufiger in Spannungsfeldern statt, die sich nicht auflösen lassen – zwischen Effizienz und Anpassungsfähigkeit, zwischen Kontrolle und Vertrauen, zwischen technologischer Automatisierung und menschlicher Entscheidungsfähigkeit.

Diese Beobachtung trifft zu, aber sie ist nur der Rahmen. Die eigentliche Arbeit beginnt dort, wo Führungskräfte lernen, diesen Rahmen mit Leben zu füllen – unabhängig davon, wie klar oder unklar die Lage ist.

Der Trugschluss der Eindeutigkeit

In unsicheren Situationen greifen viele zum gleichen Muster: Sie warten auf vollständige Informationen. Auf den ersten Blick wirkt das umsichtig, tatsächlich ist es oft riskant. Wer zu lange zögert, verpasst Gelegenheiten, verliert Handlungsfähigkeit und damit das Vertrauen derjenigen, die Orientierung suchen.

Das andere Extrem wirkt auf den ersten Blick entschlossen: schnelle Entscheidungen, klare Ansagen, feste Pläne. Doch Schein-Klarheit ist trügerisch. Wenn die Bedingungen sich ändern – und das tun sie zuverlässig – müssen Entscheidungen revidiert werden, manchmal zu einem Preis, der höher ist als das anfängliche Zögern.

Spannungen gestalten statt auflösen

Führen in Unsicherheit heißt, Gegensätze nicht als Problem zu sehen, sondern als Arbeitsmaterial. Stabilität und Agilität. Kontrolle und Eigenverantwortung. Technologie und Menschlichkeit. Wer versucht, diese Spannungen aufzulösen, verliert Teile des Systems, die für die Zukunftsfähigkeit entscheidend sind.

Deloitte benennt diese Spannungsfelder als zentrale Führungsaufgabe – und ergänzt, dass Organisationen, die sie bewusst gestalten, langfristig resilienter sind. Der Punkt ist: Diese Gestaltung lässt sich nicht aus einer Checkliste ableiten. Sie entsteht im täglichen Navigieren, im Ausbalancieren von Nähe und Distanz, im bewussten Halten der Spannung, bis ein neuer Weg sichtbar wird.

Adaptive Leadership als Haltung im Nebel

Ronald Heifetz und Marty Linsky beschreiben mit der Adaptive Leadership einen Ansatz, der genau hier ansetzt. Es wird zwischen technischen Herausforderungen – lösbar mit vorhandenem Wissen – und adaptiven Herausforderungen, die Lernen, Umlernen und Perspektivwechsel erfordern, unterschieden.

Führen in Unsicherheit ist fast immer eine adaptive Herausforderung. Sie verlangt, die Realität zu benennen, auch wenn sie unbequem ist, und gleichzeitig Orientierung zu schaffen, ohne Sicherheit vorzutäuschen. Verantwortung wird geteilt, um kollektive Intelligenz zu nutzen. Lernen wird bewusst organisiert, anstatt schnelle, vermeintlich endgültige Antworten zu liefern.

Im Nebel bedeutet das: nicht krampfhaft alle Kurven vorab sehen zu wollen, sondern die eigene Fahrweise anzupassen, die erkennbaren Leitpfosten zu nutzen und die Aufmerksamkeit für das zu schärfen, was sich im nächsten Moment zeigen könnte.

Vom Nebel zur Navigation

Klarheit im Unklaren ist kein Zustand, den man einmal erreicht und dann behält. Sie ist eine Haltung. Sie zeigt sich darin, Prinzipien und Werte so deutlich zu setzen, dass sie auch ohne vollständige Fakten tragen. Darin, Verantwortung dorthin zu geben, wo Nähe zur Situation besteht. Und darin, Momente der Reflexion einzuplanen – nicht als Luxus, sondern als notwendige Bedingung, um im Nebel den Kurs zu halten.

Die Nebelpassagen bleiben. Aber wer gelernt hat, in ihnen zu navigieren, wird feststellen: Nicht die Sichtweite entscheidet, sondern die Fähigkeit, im begrenzten Sichtfeld die richtigen Entscheidungen zu treffen.

„Wer immer tut, was er schon kann, bleibt immer das, was er schon ist.“ (Henry Ford)

Der Nebel wird nicht verschwinden. Führung ist nicht dazu da, ihn aufzulösen, sondern Wege darin sichtbar zu machen. Das gelingt, wenn Fixpunkte gesetzt werden, die auch bei sich ständig verändernder Landschaft Orientierung geben.